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document kepler©️ Bilddokumentation Stadt Regensburg, Peter FerstlRede zur Eröffnung des document Kepler
Regensburg, 1. Februar 2024
von Dr. Pablo v. Frankenberg

Nach umfassender Sanierung und Neugestaltung wurde das Sterbehaus des Astronomen und Mathematikers Johannes Kepler am 1. Februar 2024 in einem Festakt in Regensburg im Rutingerhaus wiedereröffnet. 

Die Begrüßung erfolgte durch die Oberbürgermeisterin der Stadt Regensburg Frau Gertrud Maltz-Schwarzfischer, die Ansprache durch den Regierungspräsidenten der Oberpfalz Herrn  Walter Jonas. Weitere Details entnehmen Sie bitte der Webseite der Stadt Regensberg zum document Kepler

Dr. Pablo von Frankenberg, Kurator hielt die beeindruckende Einführungrede zum document Kepler, welche wir hier ungekürzt wiedergeben. Weitere Informationen zum Autor und eine PDF Version des Vortrages finden Sie am Ende des Artikels.

  

Sehr geehrte Damen und Herren,

warum Kepler? Warum ist er, Johannes Kepler, geboren 1571 in Weil der Stadt, gestorben 1630 hier in Regensburg, eine Person, mit der man sich beschäftigen sollte? Ja, ihr gleich ein ganzes Museum widmen? Hätte ich nach Kopernikus oder Galilei oder Newton gefragt, wäre die Antwort schnell bei der Hand: die Kopernikanische Wende, die Jupitermonde, die Gravitation! Aber Kepler? Hier ist die Sache etwas komplexer, der Mensch komplizierter, sein Werk nicht auf eine bestimmte Hauptleistung reduzierbar.

Johannes Kepler war das Kind einer Gastwirtin und eines Söldners. Seinen unwahrscheinlichen Bildungsaufstieg zum Kaiserlichen Hofmathematiker verdankte er seiner cleveren Mutter Katharina Kepler und seinem eigenen brillanten Geist. Er verdankte ihn aber auch dem staatlichen (herzoglichen) Stipendiensystem. (Manchmal frage ich mich, wie viele Keplers jeden Tag der Welt abhanden kommen, weil mal wieder an Kultur und Bildung gekürzt wird oder ein funktionierendes Bildungssystem gar nicht vorhanden ist – und wo die Menschheit wäre, wenn wir in allen Ländern dieser Welt mehr in Bildung investierten).

Nun sprechen wir über das ausgehende 16. Jahrhundert. Es war nicht nur Keplers soziale Herkunft, seine mangelnde „hohe Geburt“ und das nicht vorhandene Vermögen seiner Eltern, sondern auch sein Glaube, der ihm Steine in den Weg legen sollte. Die heiß ersehnte Professur blieb ihm verwehrt und auch seine kaiserliche Anstellung war immer wieder gefährdet, weil er sich keiner der damaligen religiösen Fronten anschließen wollte. Er bestand darauf, dass an Gott zu glauben wichtiger sei als einer bestimmten Kirche anzugehören. Nachdem er deshalb seinen eigentlichen Plan aufgeben musste, Theologe zu werden, merkte er bald, dass er seinem Gott auch anders dienen konnte: nämlich indem er danach strebte, die Gesetze des Kosmos zu begreifen. Denn wenn Gott alles erschaffen hat, muss man ihn auch in allem erkennen können. Kepler tat dies zunächst mit halb magischen Annahmen, die er auch als solche, nämlich als „Mysterium“ benannte. Das zeigt die Tradition mittelalterlichen Denkens, aus der er sich Stück für Stück herausarbeitete.

Selbst Kopernikus, dessen Werk wir heute als Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit feiern, war noch stark dem alten Denken verhaftet. Sein heliozentrisches Weltbild, das er nur wenige Jahrzehnte vor Keplers Geburt veröffentlichte, sollte die Astronomie vereinfachen, hielt aber noch an den komplexen Hilfsmitteln des geozentrischen Weltbilds fest. Nebenbei bemerkt setzte Kopernikus gar nicht die tatsächliche Sonne ins Zentrum, sondern nur einen rechnerischen Mittelpunkt der Planetenbahnen, deren Ausformung er auch noch falsch annahm. Sein Weltbild setzte sich letztlich auch deshalb nicht durch, weil es mit den vorhandenen wissenschaftlichen Daten der damaligen Zeit nicht in Einklang zu bringen war. Kopernikus war einfach nicht wissenschaftlich genug.

Aus welchen Gründen auch immer glaubte Kepler dennoch an Kopernikus und schaffte es, in mühsamer, jahrelanger Kleinarbeit das heliozentrische Weltbild – von Kopernikus bloß blumig behauptet – wissenschaftlich zu beweisen. Dieser Beweis, in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts von Kepler gefunden und 1609 in seiner Astronomia Nova veröffentlicht, markiert den eigentlichen Übergang von mittelalterlicher Welterklärung zu neuzeitlicher Wissenschaft. Eigentlich müssten wir von einer Keplerschen, nicht von einer Kopernikanischen Revolution sprechen.

Kepler wäre die Bezeichnung allerdings ganz egal gewesen. Wichtiger war ihm, dass sich die verschiedenen Denkformen nicht ausschließen: noch 1621 brachte er eine zweite Auflage seines Erstlingswerks „Mysterium Cosmographicum“ heraus. Er kommentierte darin seine damaligen Irrtümer freudig, aber verwarf deshalb nicht den gesamten Ansatz, geometrische Formen zwischen die Planetenabstände zu quetschen und darin göttliche Fügung zu erkennen. Er ließ seine Fehler für alle sichtbar in der zweiten Ausgabe und wies auch noch auf sie hin. Er nahm wahr, wie wichtig dieses Werk für die Entwicklung seines eigenen Denkens und Erkennens war. Wenn wir heute über Transparenz reden, über Toleranz, über Transdisziplinarität, über Offenheit, dann sehen wir das alles idealtypisch vereint bei Kepler. Und zwar so idealtypisch, wie ich es heute kaum in wissenschaftlichen Veröffentlichungen oder in sonstigen Formen von Wissenschaftskommunikation finden kann.

Ein anderes Wesensmerkmal Keplers ist, dass er sich um seinen persönlichen Nachruhm nicht scherte, auch wenn ihm sein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte sehr wohl bewusst war. Für seine wissenschaftlichen Erkenntnisse feierte er sich in seinen Veröffentlichungen durchaus. Doch auf persönlicher Ebene ging seine Uneitelkeit so weit, dass wir heute kaum wissen, wie er aussah. Was wir dafür sehr genau wissen, ist, wie er gedacht und wie er gearbeitet hat. Darüber gibt er schonungslos Auskunft – in seinen Briefen, aber auch in seinen wissenschaftlichen Publikationen.

Je mehr andere an seiner Wissenschaft weiterbauten, umso glücklicher werde er, gestand er schon früh seinem Lehrer Michael Mästlin. Er sei nicht auf diejenigen neidisch, die mit seinen Gedanken weiter kommen als er selbst, solange seine wissenschaftlichen Erkenntnisse nützlich sind. Diese Großzügigkeit spiegelte sich in seinem wissenschaftlichen Ideal: nur durch Offenheit, Kooperation und freien gedanklichen Austausch, keinesfalls aber durch Lobhudelei und Anhäufung von Ämtern kann man Erkenntnis erlangen. Seine Großzügigkeit kam aber auch von seiner enormen Produktivität, seinem unermüdlich Neues schaffenden Geist und seiner Kreativität darin, alten Problemen mit neuem Werkzeug zu Leibe zu rücken. Als wahrer Meister hatte er viel und konnte viel geben.

Allerdings haben wir nur wenige materielle Zeugnisse von Kepler. Er hinterließ einen umfangreichen Nachlass mit tausenden von Blättern mit Handschriften, Tabellen, Skizzen, Berechnungen und Zeichnungen plus die Erstausgaben seiner Publikationen. Schließlich veröffentlichte er trotz seiner vielen Reisen und anderen Verpflichtungen seit seinem ersten Werk fast jedes Jahr ein Buch. Das Konvolut des Keplerschen Nachlasses wechselte auch durch den Dreißigjährigen Krieg nach seinem Tod oft den Besitzer, bis Zarin Katharina II. den Keplerschen Nachlass für die Sternwarte in Pulkowo bei St. Petersburg kaufte. Deutschland entdeckte die Bedeutung Keplers erst wieder durch Schelling und Hölderlin um 1800, die in Kepler den Idealtypus eines Genies sahen.

Für all das, um die Frage vom Anfang zu beantworten, lohnt es sich, sich mit Kepler zu beschäftigen. Es lohnt sich, ihm ein Museum zu bauen – doch was sage ich, eins? viele! Weder Prag noch Linz noch Graz, Städte, in denen er den Großteil seines Lebens verbrachte, haben eins. Regensburg, wo er sich zwar immer wieder, aber immer nur kurz aufhielt, hat eins. Hier können wir uns endlich mit Kepler beschäftigen. Hier können wir sehen, dass sich Glaube und Wissen nicht ausschließen müssen und dass der Weg zu beidem nicht durch autoritäre Institutionen vermittelt werden muss. Hier können wir sehen, wie produktiv es sein kann, wenn man verschiedene Denkformen genauso wie Selbstwiderspruch zulässt, was es bedeutet, eigene Fehler nicht nur zu erkennen, sondern sie auch anderen zu zeigen. Kritisches und selbstkritisches Denken zu nähren, Offenheit gegenüber dem besseren Argument zu üben, locker genug zu sein, um lieb gewonnene Annahmen über den Haufen zu werfen, um sich frei zu machen für neue Entdeckungen, all das macht es so lohnenswert, sich mit Kepler zu beschäftigen.

Die heute eröffnete neue Dauerausstellung im »document Kepler«, so der offizielle Name des Regensburger Kepler-Museums, will, dass man hinter die Kulissen blickt: hinter die Darstellung von Geschichte und hinter die „Authentizität“ des denkmalgeschützten Sterbehauses. Von Kepler selbst haben wir wie gesagt nur wenig – nicht nur wegen seiner mangelnden Selbstvermarktung, nicht nur, weil er trotz der Bedeutung seines Werks für die Wissenschaft schnell nach seinem Tod in Vergessenheit geriet, sondern auch, weil sein Medium das Denken und die Schrift, das Rechnen und die Diskussion war. Er selbst beobachtete kaum die Sterne, weil er schlechte Augen hatte. Es gibt also nicht die Aura eines von Kepler berührten Fernrohrs, eines von ihm benutzten Quadranten, noch nicht mal seine Möbel sind erhalten, zu sehr reiste er im Dienste der Wissenschaft und auf der Flucht vor Glaubenskämpfen herum. Objekte, die man in einem Museum ausstellen könnte, gibt es nur wenige. In Regensburg nun haben wir zumindest das Haus, in dem er sich im November 1630 zwei Wochen aufhielt und dann starb.

Doch die Decke, auf die Kepler in seinen letzten Tagen wohl schaute, war eine andere, die Treppen, die er nutzte, ebenfalls, auch die Fenster, durch die er auf die Straße blickte, waren nicht die gleichen, ja selbst das steinerne Eingangsportal der heutigen Keplerstraße war vor 400 Jahren noch nicht da. Als das Sterbehaus 1962 zum Museum wurde, bediente man sich der mittelalterlichen Nachbarhäuser, kaufte in bayerischen Antiquitätenhandlungen ein und vertraute dem Geschick des lokalen Handwerks, um ein möglichst „authentisches“ Bild des „originalen“ Sterbehauses Johannes Keplers zu inszenieren, zu ergänzen wo nötig und zu behaupten, wo man nichts wusste. Diese Inszenierung hatte nur sehr bedingt etwas damit zu tun, wo und wie Kepler starb. Wo aber ist Kepler dann gestorben, wenn doch alles anders war? Die Decke nicht die Decke, die Treppe nicht die Treppe und die Möbel nicht die Möbel von damals waren? Anders gefragt: können wir uns vorstellen, wie es damals wirklich war? Wir können es versuchen, das schon. Und Kuratoren und Kuratorinnen und Gestalterinnen und Gestalter können uns dabei unterstützen.

Grana dat e fimo scrutans – frei übersetzt: im Mist pickend findet sie Körner. Das druckte Kepler auf den Schmutztitel seiner Stella Nova, zusammen mit dem Holzschnitt einer Henne, die mit ihren Küken im Mist nach Körnern pickt. Er meinte das auf seine Wissenschaft bezogen. Man könnte es aber auch als Motto für die Arbeit eines Kurators verstehen: aus einer Masse eine Auswahl treffen. Nichts anderes tun letztlich auch Historiker: einen Ausschnitt aus dem Strom der Zeit wählen, erforschen, analysieren, darstellen.

Dabei geht es gar nicht so stark darum, was als Mist und was als Korn gesehen wird, sondern dass wir aus einer unübersichtlichen Masse das herausfiltern müssen, was für uns interessant und hilfreich ist. Ein Leitfaden wissenschaftlicher und auch kuratorischer Arbeit: sich stets darüber im Klaren zu sein, dass die Definition, was Korn und was Mist ist, immer eine kontingente ist. Wenn uns dieser Leitfaden abhanden kommt, sind wir bei Lewis Carrolls „Sylvie und Bruno“, in dem ein Charakter namens „Mein Herr“ von der Optimierung der Kartografie erzählte. Sein Land produzierte immer bessere Karten, bis sie „the grandest idea of all“ hatten und die exakteste Karte des Lands im Maßstab eins zu eins erstellten. Entfaltet wurde diese Karte noch nie, weil sich wohl die Bauern auf ihren Feldern dagegen wehrten. Jorge Luis Borges nahm dieses Motiv für eine seiner Kurzgeschichten auf, die er gleich verräterisch „Von der Strenge der Wissenschaft“ betitelte. Die Liebe zur Geografie ließ ein unbenanntes Reich ebenfalls eine Karte entwickeln, die immer „exakter“ wurde, bis sie sich mit dem dargestellten Reich in jedem Punkt deckte. Auch wenn wir unsere Wissenschaft noch so streng betreiben, bleibt immer ein Abstand zur Wirklichkeit. Dieser Abstand ist so wichtig wie die Wissenschaft selbst.

Im document Kepler falten wir letztlich auch eine „Karte“ auf, die eine Orientierung in Keplers Denken und für Keplers Zeit anbietet. Diese „Karte“ sagt an jeder Stelle, dass sie „Karte“, also eben Hilfsmittel, und bloß nicht mit dem zu verwechseln ist, für was sie steht.

Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, müssen also Ihren Weg in Keplers Denken und seine Zeit selbst finden. Wir lassen zwar an vielen Stellen Kepler zu Wort kommen, aber was Sie daraus für sich und für unsere Zeit heute ziehen, bleibt Ihnen überlassen. Wir geben Ihnen die Möglichkeit, durch seine Werke und seine Briefe, seine Lebensumstände und seine scientific community sich mit seinem Denken und seiner Zeit zu beschäftigen. Nichts von dem, was wir zeigen, ist vollständig oder mit dem Anspruch auf Abgeschlossenheit ausgestattet. Sie müssen mit Ihrer Phantasie die Lücken füllen. Mit Keplers Gedanken als Hörbuch auf den Ohren und der in jedem Raum anderen Inszenierung von Exponaten, Illustrationen, Medienstationen vor Augen, dazu noch in einem Haus, das im Großen und Ganzen Keplers Sterbehaus ist, können Sie sich Ihr Bild selbst zusammensetzen. Sie können es diskutieren, kritisieren, Fehler finden, Fragen stellen, Inspirationen sammeln, vor sich hindenken und auf neue Ideen kommen. Doch eins können Sie nicht, auch wenn wir ein paar schöne Liegen von Mies van der Rohe haben: sich zurücklehnen und das Dargestellte für die einzige Wahrheit nehmen.

Regensburg hat das größte allein Johannes Kepler gewidmete Museum der Welt. Das einzig andere nur Kepler gewidmete Museum Deutschlands befindet sich an seinem Geburtsort in Weil der Stadt. Alle anderen Orte, die für Kepler wichtig waren, haben kein eigenes Kepler-Museum. Regensburg kann stolz darauf sein. Und mit dem Stolz kommt die Verantwortung: von Kepler können wir freies, kritisches und wissenschaftliches Denken lernen. Alle drei Denkformen sind nicht immer identisch, aber zusammen sind sie die Grundlage eines menschlichen, gleichberechtigten Miteinanders. Das ist die Botschaft des neu gestalteten document Kepler. Meine Hoffnung ist, dass diese Botschaft bald wieder eine Selbstverständlichkeit und keine Mahnung ist.

 Warum_Kepler_Eröffnungsrede_document_Kepler.pdf

 

Dr. Pablo v. Frankenberg

Pablo v. Frankenberg studierte Soziologie und Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen und promovierte über die Internationalisierung der Museumsarchitektur. 2012–2013 entwickelte er das künstlerische Forschungsprogramm für Urbane Künste Ruhr. Ab 2013 war er Kreativdirektor für den Architekten und Museumsgestalter HG Merz. 2019 gründete er sein eigenes Büro und konzipiert Museen, entwickelt und kuratiert Ausstellungen und berät Architekturprojekte, Kulturinstitutionen und Kommunen. Er lehrt und publiziert in den Bereichen Kulturwissenschaft, Museologie und Architektur.

www.vonfrankenberg.cc